Was ist denn Armut überhaupt? Wer weniger als 951 Euro netto hat, zwölf
Mal im Jahr, der gilt als arm. Man berechnet die Armutsgrenze anhand des
Medians, also des Mittleren Einkommens der Gesellschaft. Bei 60 Prozent
des Medianeinkommens liegt die Armutsgrenze. Aber sie variiert von Land
zu Land, denn auch das Medianeinkommen variiert. Das heißt, wer in
Österreich arm ist, ist es in Deutschland nicht. Armut ist relativ.
Armut ist kein Begriff wie jeder andere, sondern seit jeher höchst
umstritten und immer noch heiß umkämpft. Machen wir uns nichts vor: Wer
ihn benutzt, betritt ein ideologisch vermintes Gelände, auf dem über die
sozioökonomische Architektur und die Machtstruktur unserer Gesellschaft
verhandelt wird.
Ein altes Sprichwort lautet: Wer A sagt, muss auch B sagen. Christoph
Butterwegge stellt klar: Wer über Armut spricht, muss auch über Reichtum
sprechen. Denn es sind zwei Seiten derselben Medaille.
In einer wohlhabenden Gesellschaft, die den Anspruch erhebt, sozial,
gerecht und demokratisch zu sein, müssen Armut, sofern sie nicht auf
Einzelfälle beschränkt ist und man ein persönliches Versagen der davon
Betroffenen unterstellen kann, wie Reichtum, der ein vernünftiges Maß
übersteigt, öffentlich gerechtfertigt werden.
Persönliches Versagen der Betroffenen entlässt die Öffentlichkeit aus
der Verantwortung. Und umgekehrt: Wenn Arme nicht für ihr Armsein
verantwortlich gemacht werden können, dann ist die Öffentlichkeit in die
Pflicht zu nehmen, so der Politologe.
Denn Armut existiert nie unabhängig von den gesellschaftlichen
Verhältnissen, die sie umgeben. Dazu gehören in der Welt von heute ein
früher unvorstellbares Maß an Wohlstand und Reichtum. In unserer
Gesellschaft ist der Zusammenhang zwischen Armut und Reichtum allerdings
geradezu mit einem Tabu belegt.
Ausführlich widmet sich Christoph Butterwegge den Zerrbildern der Armut,
den Missbrauchsdebatten auf Stammtischniveau und der Angst der
Mittelschicht, abzurutschen. Bis er schließlich über Irrwege, aber auch
Wege der Armutsbekämpfung schreibt. Etwa über den Sozialstaat, über das
Grundeinkommen, über Bildung und über Umverteilung.
Im deutschen Armutsdiskurs ist "Umverteilung" das Reizwort
schlechthin. Egal, welcher der etablierten Parteien ein Spitzenpolitiker
angehört, auf jeden Fall wird er leugnen, dass diese zur Verringerung
der Armut tauglich, sinnvoll und notwendig ist.
Das Grundeinkommen hält Christoph Butterwegge für den falschen Weg.
Wichtig wäre ein Mindestlohn, der Ausbau des Sozialstaats, ein leichter
Zugang zu Bildung und Umverteilung.
Das drängende Problem einer zunehmenden sozialen Ungleichheit, die
den inneren Frieden und die Demokratie zu gefährden droht, lässt sich
kaum mehr vertuschen, verharmlosen oder verdrängen. (...) Die
gesellschaftlichen Verteilungskämpfe dürften sich zuspitzen, wenn über
Jahre hinweg die Frage im Raum steht, wer die Kosten der
Finanzmarktkrise und der Bankensanierung tragen muss.
"Armut in einem reichen Land" ist höchst informativ, ohne belehrend zu
sein. Es ist einfühlsam, ohne Mitleid zu erregen. Es ist gespickt mit
Zahlen und Statistiken, und mit Zitaten von Bertold Brecht bis Max
Horkheimer, von John Gray bis zur "Bild"-Zeitung. Anmerkungen und
Literaturauswahl sind so ausführlich, wie man es sonst nur aus Fach- und
nicht aus Sachbüchern gewohnt ist. Kurz: Es ist ein wissenschaftliches,
gut lesbares Werk. Mit einem Wermutstropfen: "Armut in einem reichen
Land" hat einen starken Deutschlandbezug. Nichtsdestotrotz ist dieses
Buch nicht nur im Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung besonders
lesenswert.
Text: Rosa Lyon